Neapel ist ein Rausch

Reisebericht über Wagner damals und seine Fans heute in Neapel

Wagner liebte Italien – im Leben wie in seinen Werken. Der 5. Akt seiner unvertonten Oper Die Sarazenin spielt in Neapel, das Liebesverbot in Palermo. Handlungsort des Rienzi ist Rom und für den Parsifal ließ er sich szenisch vom Dom in Siena und von der Villa Rufolo in Ravello inspirieren.

Stadtansicht Neapel – Foto: Dirk Jenders

Dreimal reiste Richard Wagner mit Cosima und den Kindern nach Neapel. Erstmals und nur für wenige Tage im September 1876: Damals war Sorrent sein Ziel, von dort besuchte er die Ausgrabungen in Pompeji. Vier Jahre später bedrückten ihn das Bayreuther Wetter, seine gesundheitliche Lage und wieder einmal die enormen Ausgaben. Die Ärzte empfahlen einen Klimawechsel und so traf er am 4. Januar 1880 erneut in Neapel ein, um fast acht Monate zu bleiben: Neapel ist meine Stadt, hole der Teufel die Ruinen, hier lebt alles! 

Hier diktierte er Cosima einige Kapitel seiner Autobiographie und verfasste die teils abstruse Schrift Religion und Kunst, in der er die menschliche Tragik des Weltendaseins beschreibt. Richard und Cosima besuchten das Teatro San Carlo und sahen La Juive von Halévy: Freude an San Carlo, das rechte Operntheater, Freude an den vielen Schönheiten des Werks, Freude an dem Orchester, aber Entsetzen über die Sänger und die in Scene Setzung. Wagner lobte das Stück, das voller Leben und Feingefühl sei und konnte sich nicht verkneifen hinzuzufügen, es sei gar nicht jüdisch. Es sollte jedoch der einzige Besuch des San Carlo bleiben (nicht nur für die beiden, wie sich 144 Jahre später zeigen sollte. Doch dazu gleich mehr). Im Teatro Bellini sahen sie den Barbier von Sevilla von Rossini: Hübscher Saal, aber trostlose Aufführung, auch hierfür alle Tradition verloren. Das wird wahrscheinlich unser letzter Besuch einer Oper sein, resümierte Cosima.

Teatro San Carlo – Foto: Dirk Jenders

In Neapel musste man Wagner mühevoll seine illusorischen Pläne ausreden, mit der Familie nach Amerika übersiedeln zu wollen. 1880 war er umgeben von den Malern Paul von Joukowsky und Arnold Böcklin, dem jungen Engelbert Humperdinck, dem Pianisten Joseph Rubinstein, der Schriftstellerin Malwida von Meysenburg und dem 23-jährigen Heinrich von Stein, der als Erzieher Siegfrieds fungierte. Cosima schrieb über diese Monate am Golf von Neapel: Richard gefällt das tolle Leben hier sehr, und es ist wirklich die lebendigste Stadt, welche man sich vorstellen kann; volkstümlich im üppigsten Sinne des Wortes. Sein Bier und manches Mittagsmahl nahm Wagner übrigens gerne im Bierlokal Dreher ein. Das Haus gibt es nicht mehr, aber man vermutet an dieser Stelle heute das Gran Caffè Gambrinus, welches als eines der schönsten Kaffeehäuser der Welt gilt.

Am 26. Mai 1880 erlebte Wagner einen Schlüsselmoment für seinen Parsifal. Mit der Familie und in Begleitung von Paul von Joukowsky unternahm er einen Ausflug nach Amalfi. Von dort begab man sich auf Eselskarren hinauf nach Ravello. Hier besuchte er die Villa Rufolo, ein halbverfallenes Maurenschlösschen aus dem 12. Jahrhundert mit einem märchenhaften Rosengarten. Insbesondere dieser Rosengarten versetzte die Besucher in Verzückung. Mit seiner Blütenpracht, den Hecken und malerisch von wildem Grün umrankten Nischen und Bänken, den sarazenischen Pavillons, überragt von Zypressen und Aloe erschien er als die ideale Umgebung für den zweiten Parsifal-Aufzug. Hier schreibt Wagner ins Gästebuch: Klingsors Zaubergarten ist gefunden! Joukowsky musste die Szenerie sofort in einer Skizze festhalten.

Garten der Villa Rufolo in Ravello – Foto: Dirk Jenders

Kaum eine andere italienische Stadt – mit Ausnahme Venedigs – erregte Wagners Liebe und Bewunderung so sehr wie Neapel. Er war fasziniert von der Einfachheit, Rauheit und Lebendigkeit der Bewohner. Die Stadt stand für ihn im Gegensatz zur Lagunenstadt, er schreibt: Neapel ist ein Rausch – Venedig ein Traum. Neapel war also ein Wunderort für ihn, wie auch Sehnsuchtsort aller Bildungsreisenden des 19. Jahrhunderts. Die konstatierte Rauheit der Menschen rührt wohl auch daher, dass sie ihr Leben nicht nur am Fuße des Vesuvs, sondern zudem auf einem noch gefährlicheren Supervulkan, den Phlegräischen Feldern, aufgebaut haben. Es braucht in der seismisch-bewegten Region offensichtlich eine gehörige Portion Robustheit. Wagner selbst wurde nur einen Tag nach seinem Ravello-Besuch Zeuge eines beeindruckenden Sprühens und Fauchens des Vesuvs und sagte über dessen Feuergarben: Der Vesuv ist solange tätig, bis der Kaffee für den Teufel gekocht ist. 

Vesuv – Foto: Dirk Jenders

Am 8. August 1880 entfloh Wagner dem neapolitanischen See-Klima aufgrund einer erneuten schweren Gesichtsrose und reiste mit seinem Tross nach Rom. Ein letztes und kurzes Mal hielt er sich im April 1882 in Neapel auf; er befand sich auf der Rückreise von Sizilien ins heimische Bayreuth.

Mit einer stattlichen Gruppe von Mitgliedern begab sich auch der RWV Frankfurt Anfang Oktober 2024 an den Golf von Neapel. Bei bestem spätsommerlichen Wetter konnten wir nach-erfahren und nach-fühlen, warum diese Region am Fuße des Vesuv seit jeher die Menschen in den Bann zieht.

Wie damals empfängt die Stadt ihre Gäste auch heute mit Rauheit und Lebendigkeit. Die Lebendigkeit zeigt sich nun als permanenter Fluss von Menschen, Mopeds und Autos, die sich alle gleichzeitig durch noch so enge Gassen drängen. Wer im Spanischen Viertel der Altstadt genau hinschaut, kann die Armut vieler Bewohner an ihren zum Teil prekären Wohnverhältnissen ablesen, aber auch den Reichtum ihrer Nachbarn in der „Belle Etage“ benachbarter Palazzi. Die Stadt atmet an jeder Ecke Geschichte. Unsere sympathische Reiseleiterin Rosaria machte uns beim ausgiebigen Stadtrundgang mit den prachtvollsten Plätzen, Kirchen und Klöstern vertraut, aber ebenso mit den malerischen und pittoresken Gassen der Altstadt.

Ausflüge führten auch uns nach Amalfi und Ravello, wie einst Wagner. In die Topographie der Amalfiküste muss man sich einfach verlieben, weniger jedoch in „Klingsors Zaubergarten“ der Villa Rufolo anno 2024. Die wenigen noch vorhandenen Rosensträucher musste der Besucher suchen, und ordentlich gepflanzte Fleißige Lieschen treten heute an die Stelle des 1880 vorgefundenen „von wildem Grün umrankten“ Gartens – tempi passati.

Insel-Idyll Procida – Foto: Dirk Jenders

Idyllisch war die kleine Insel Procida mit ihren bunten, an den Fels gehefteten Häusern. Wahrlich beeindruckend zeigten sich die Ausgrabungsfelder von Pompeji. Die Pracht der reich mit Wandgemälden und Mosaikböden verzierten Villen und das alltägliche Leben der im Jahr 79 n. Chr. vom Vesuv zerstörten Stadt mit einstmals 25.000 Einwohnern wird dank aufwändiger archäologischer Arbeiten zu einem Fenster in die Vergangenheit. Wer übrigens den Begriff „Overtourism“ noch nicht kannte, wurde in Pompeji Zeuge von dessen Bedeutung. Ruhe und Entspannung bot da der anschließende Besuch eines Weingutes an den Hängen des seit den 1940er Jahren schlafenden Vesuvs. Auf dessen Lavaböden gedeihen Wein, Oliven und Aprikosen.

Villa in Pompeji – Foto: Dirk Jenders

Natürlich stand auch ein Besuch des Teatro San Carlo auf dem Reiseprogramm; ursprünglich waren sogar derer zwei vorgesehen. Doch wie einst bei Richard und Cosima sollte es bei einer Aufführung bleiben. Ein italienisches Opernkonzert mit Tenor Jonas Kaufmann und Bariton Ludovic Tézier musste aufgrund einer Conora-Erkrankung des Tenors ersatzlos abgesagt werden. So kamen wir im Yachthafen des vornehmen Stadtteils Partenope kurzerhand in den Genuß eines vorzüglichen Dinners in einem der besten Fischlokale Neapels. Die Adresse des Restaurants lautete Via Riccardo Wagner (!), vis-à-vis vom einstmaligen Hotel Vittoria, in dem der Bayreuther Meister bei seinem ersten Neapel-Besuch logierte.

Der durch die Konzertabsage einzige Besuch des im Jahre 1737 eröffneten San Carlo zählte dafür mindestens für zwei. Richard Strauss‘ Elektra wurde zu einer Opern-Sternstunde. Die Produktion von 2017 in der Regie von Klaus Michael Grüber und mit Bühnenbild und Kostümen des Künstlers Anselm Kiefer begeisterte musikalisch wie szenisch. Das vortreffliche Sängerensemble bewegte sich in der perfekt mit Musik und Text korrespondierenden Personenregie und in der kongenialen Szenerie einer Palastanlage (entweder noch im Bau oder archäologisch gesichert – hier waren die Sichtweisen des Betrachters frei): Ricarda Merbeth als in jeder Hinsicht dramatische und in ihren Bann ziehende Titelheldin, Evelyn Herlitzius als Luxusbesetzung der Klytämnestra und Elisabeth Teige als wunderbar lyrische Chrysothemis seien hier herausgehoben. Das Publikum dankte für die außerordentliche Gesamtleistung mit langem, enthusiastischem Applaus.

Wagner hat Recht behalten: Neapel ist ein Rausch – voller Lebensfreude und Chaos, jahrtausendealter Geschichte und Faszination. Doch letztlich reist man aus diesem Schmelztiegel gerne wieder ab, um vielleicht für einen nächsten Rausch zurückzukommen.