Text: Sven Wehser
In seinem kurzweiligen Vortrag mit dem Titel „Zum Raum wird hier die Zeit – Klang und Ritual in Richard Wagners PARSIFAL“ bot Thomas Guggeis eine ebenso spannende, kenntnisreiche und nachdenklich stimmende Annäherung an Wagners letztes Musikdrama. Der Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt, der sich mit tiefem musikalischen Verständnis und intellektueller Neugier längst einen Namen gemacht hat, spannte dabei den Bogen von kompositorischen Feinheiten bis hin zu ideologiekritischen Überlegungen. Sein Musikvortrag fand am 9. Mai im Rahmen des Parsifal-Schwerpunkts im Frühjahrsprogramm des RWV Frankfurt statt und war von Beginn bis zum Schluss fesselnd und sehr nahbar.
Im Zentrum seiner Ausführungen stand die Frage, wie Wagner in Parsifal Zeit in Klang verwandelt – und damit eine neue, fast rituelle Form musikalischer Erzählung schafft. Bereits das Vorspiel offenbare, so Guggeis, diese Ambition: Synkopen, fließende Übergänge, rhythmische Komplexität und das allmähliche Verschwimmen musikalischer Grenzen. Das Werk sei durchzogen von einer „Verunklarung“ von Strukturen, Motiven, ja selbst der Tonalität. Es bestünden bis zu vier übereinanderliegende Klangebenen, die sich dem analytischen Zugriff des Hörers entzögen – eine Entindividualisierung des Klangs, unterstützt durch den berühmten Orchestergraben in Bayreuth, der den Ton in einen „Klangstrom“ verwandle.
Spannend war auch Guggeis’ Analyse der Leitmotivstruktur: Während im Rheingold noch 25–35 Motive verwendet werden, sei Parsifal mit deutlich reduzierter Motivik komponiert. Das Liebesmahlmotiv, das Schmerzmotiv, das aufstrebende Speermotiv, das Grals- und das Glaubensmotiv erscheinen in ritualisierten Zusammenhängen, oft in schlichter, liedartiger Struktur.
Im ersten Akt werde die Gralswelt als Sphäre der Diatonik und des Lichts vorgestellt – kontrastiert durch die Figur der Kundry, die mit schrillen Klängen, einem Fluch-Lachen und chromatischer Harmonik die Gegenwelt verkörpere. Amfortas stehe zwischen beiden Welten: ein „Hyper-Tristan“, der – anders als Tristan – aufgrund einer ewigen Erneuerung durch den Gral nicht an seiner Wunde sterben kann. Wagner treibe hier das Motiv des leidenden Erlösungsbedürftigen bis an die Grenze.
Guggeis scheute auch die problematischen Aspekte des Werkes nicht: die Nähe zu Gobineaus Rassentheorie, die Vorstellung von „unreinem Blut“ und dessen notwendiger Reinigung, die ambivalente Rolle von Taufe und Karfreitagszauber – all dies könne, so Guggeis, als „Blaupause des Holocaust“ gelesen werden. Umso wichtiger sei es, Parsifal als Oper – nicht als Bühnenweihfestspiel – aufzuführen und das Werk vom Autor Wagner zu lösen.
Aufschlussreich waren auch seine Ausführungen zum zweiten Akt: eine Welt der Verführung und des Scheiterns, in der Parsifal völlig verloren sei – hörbar in der Auflösung harmonischer Stabilität, die beinahe an Schönberg denken lässt. Ein „abstraktes Geschehen“, das dennoch emotional berührt und in einer Apotheose mündet: Die rhythmische Komplexität löst sich auf, das Werk endet mit einer Geste der Gelöstheit. Guggeis schloss mit einem lakonischen Zitat: „Glücklich die, die einfach nur die schöne Zauberoper sehen und hören können, die sie ist.“
90 Mitglieder und Gäste im voll besetzten Saal des Dr. Hoch’s Konservatoriums dankten mit begeistertem Beifall. Mit den gewonnenen Erkenntnissen tauchten 80 Mitglieder nur drei Tage später in den orchestralen und gesanglichen Klangkosmos des 1. Parsifal-Aufzugs ein. In der Oper Frankfurt erhielten sie die exklusive Möglichkeit zum Besuch einer Bühnen-/Orchesterprobe der mit Spannung erwarteten Neuinszenierung von Brigitte Fassbaender.